Jüdische Studierendenverbände zeigen sich entsetzt über antisemitisches Theaterstück in München
Offener Brief der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands und des Verbandes jüdischer Studenten in Bayern in Zusammenhang mit dem Stück „Vögel“ von Jochen Schölch
Am 23. Oktober 2022 besuchten vier Angehörige der beiden Studierendenverbände das aktuell im Metropoltheater München aufgeführte Theaterstück „Vögel“ von Jochen Schölch und waren über das Ausmaß des darin zur Schau getragenen Antisemitismus entsetzt. Shoa-Relativierung und Vergleiche zwischen dem jüdischen Staat und Nazi-Deutschland werden immer wieder eingesetzt und vom Publikum mit starkem Applaus begrüßt.
Das Stück thematisiert zunächst die Geschichte einer jüdischen Familie, die nicht mit der Beziehung des Sohnes zu einer arabischen Frau einverstanden ist. Dies führt zu großen inneren Zerwürfnissen innerhalb der Familie, die das junge Paar dazu verleitet, nach Israel zu reisen, um der Komplexität dieses Identitätskonflikts nachzugehen.
Mit diesem offenen Brief möchten wir auf die problematischen und antisemitischen Narrative, die im Laufe des Stückes aufkommen, hinweisen. In „Vögel“ wird Holocaust-Relativierung sowie israelbezogener Antisemitismus salonfähig gemacht und dabei durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München institutionell gefördert.
Der libanesisch-kanadische Autor Wajdi Mouawad, welcher in Frankreich lebt, versucht neben dem israelisch-palästinensischen Konflikt auch den angeblichen Konflikt „zwischen Shoa Überlebenden und ihren Nachkommen, die sich ihre Identität nicht von den KZ-Erlebnissen ihrer Vorfahren diktieren lassen wollen“ (Bayrischer Rundfunk), darzustellen.
So verlangt der jüdische Enkelsohn von seinem Großvater, der die Shoa überlebte, nicht alles mit „seinem Scheiß KZ“ zu vergleichen. Darüber hinaus bedauert die Großmutter, dass dieser im KZ nicht gestorben sei, denn „dann würde sie ihn jetzt nicht mehr ertragen müssen“. „Schade, dass du im KZ nicht gestorben bist“ ist dabei eine Phrase, die Jüdinnen:Juden häufig hören müssen. Dies jedoch nicht von ihrer eigenen Familie, sondern von nicht-jüdischen Personen, die durch diesen Satz Judenhass auf Demonstrationen, dem Fußballplatz, im Internet und jeder denkbaren alltäglichen Situation zum Ausdruck bringen. Dieser Satz ist Normalität in Deutschland.
Ebenso beschwert sich der Großvater über die Sicherheitskontrollen am Flughafen von Tel- Aviv und vergleicht die Warteschlange mit den Konzentrationslagern: „Stecken sie uns jetzt in den Ofen?“ Derartige Aussagen, die den industriellen Massenmord an Jüdinnen:Juden völlig relativieren und einen Vergleich der Verbrechen der Nationalsozialisten mit dem israelischen Staat herstellen, sind für uns, junge Jüdinnen:Juden, die teilweise selbst Nachkommen von Überlebenden sind, nicht nur schmerzlich. Sie sind für uns nicht hinnehmbar.
Ebenfalls problematisch ist die Reaktion des Publikums: Es bricht immer wieder in Lachen aus. Diese Tatsache schockiert uns zwar, ist jedoch auf keinen Fall eine Überraschung. Dem Publikum wird vermittelt, dass ihre eigenen antisemitischen Ressentiments kein Tabu sind und frei geäußert werden könnten, da dies angeblich auch innerhalb jüdischer Familien normalisiert sei.
Zudem folgt eine Andeutung, welche Nazideutschland und Israel gleichsetzt. Israelische Soldat:innen werden zu „den neuen Nazis“ stilisiert, indem eine israelische Soldatin dem Publikum mitteilt, dass sie den ganzen Tag Leichenteile von Palästinenser:innen entsorgen und verbrennen würde.
Aber es bleibt nicht nur bei Holocaust-Relativierung und kruden Vergleichen. Jüdinnen:Juden werden als prinzipiell rassistisch dargestellt und dämonisiert. Der Großvater soll zum Beispiel in der Vergangenheit ein arabisches Baby gestohlen haben.
Letztlich wird Israel als Hölle für die dort lebenden Jüdinnen:Juden porträtiert. So deuten es Aussagen wie „wir wollen alle fliehen“ an. Der nicht-jüdische libanesisch-kanadische Autor schafft auf diese Weise ein verfälschtes, nicht repräsentatives Bild von Israelis. Ob er dabei von der wachsenden Immigration nach Israel weiß, ist zweifelhaft.
Der laute Applaus am Ende des Stücks steht für sehr positives Feedback und lässt die jungen Jüdinnen:Juden im Saal erschüttert zurück.
Gerade im Hinblick auf den 9. November wollen wir klar machen: Ein jährliches #weremember ist nicht genug. Kaum ein Raum in diesem Land ist frei von antisemitischen Darstellung von Jüdinnen:Juden und wie wir anhand dieses Beispiels schmerzlich beobachten können, wird Antisemitismus nicht erkannt und nicht benannt, sondern als „berechtigte Israelkritik“ oder gar als unterhaltsam empfunden. Wir fordern die Stadt München dazu auf, die Finanzierung des Stückes zu streichen! Öffentliche Gelder dürfen nicht in die Förderung von Antisemitismus fließen! Wir fordern das Metropoltheater München dazu auf, sich mit Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen zu befassen und das Stück nicht weiterhin in dieser Form aufzuführen. Der Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland hat ein ernsthaftes Antisemitismusproblem. Dies konnten wir dieses Jahr bereits anhand des Dokumenta-Skandals erfahren. Das Stück „Vögel“ ist ein weiterer Tropfen in ein mehr als volles Fass. Wir sagen: Genug ist genug!
Hierzu Michael Movchin, Vorsitzender des Verbandes jüdischer Studenten in Bayern:
„Eine unsäglich von Antisemitismus durchtränkte Theaterinszenierung mitten in München. Die auf der Bühne des Metropol-Theaters stattfindende Dämonisierung von Juden wird aus öffentlichen Geldern gefördert. Das Kulturreferat der Landeshauptstadt München muss die Förderung dieses Theaters dringend auf den Prüfstand stellen. Die Inszenierung darf in der gegenwärtigen Form nicht weiter fortgeführt werden. Erschreckend, wie sehr sich die Diskurse der sich als offen verstehenden Kunst- & Kulturszene gewandelt haben.“
Hierzu Hanna Veiler, Vizepräsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands:
„Dass junge Jüdinnen:Juden in Deutschland nicht einmal in Ruhe ins Theater gehen können, ohne mit Antisemitismus konfrontiert zu sein, sollte uns mehr als nur alarmieren. Es sollte uns ernsthaft hinterfragen lassen, in was für einem Land wir leben. Die Kunst- und Kulturszene in Deutschland hat ein ernsthaftes Antisemitismusproblem. Das hat sich anhand der Dokumenta gezeigt und es zeigt sich hier erneut. Es reicht also nicht, an Gedenktagen große Reden zu halten. Wir müssen handeln und zwar jetzt.“